Sozialversicherungsträger – so die Feststellung des BGH – sind durch gesetzliche Vorgaben angehalten, zeitnah auf Beitragsrückstände durch Vollstreckung und Insolvenzantrag zu reagieren. Deshalb haben die Sozialversicherungsträger einen unmittelbaren Zugang zu den Unternehmen und auch zur Insolvenzpraxis in Deutschland.
Die frühzeitige Prüfung von Sanierungschancen und hier insbesondere die professionelle Erstellung einer Fortführungsprognose durch eine zeitnahe Sachverständigenbeauftragung/ Sachstandsaufklärung muss daher auch im Interesse der Krankenkassen liegen, die steuer- und versicherungspflichtige Arbeitsplätze gern langfristig erhalten möchten. Frühzeitige Sachaufklärung wird als Prävention gegen Anfechtungsrisiken auch vom BGH anerkannt. Im Urteil werden nun zudem Indizien benannt, die es zu erkennen gilt.
In der Folge dieser Rechtsprechung, ist – sofern die vom BGH genannten Indizien nicht ernst genommen werden – mit einer erheblichen Erhöhung der Anfechtungsbeträge zu rechnen.
Völlig unverständlich bleibt es vor diesem Hintergrund allerdings, dass eine Verbesserung der Sanierungsaussichten und eine frühere Sachstandaufklärung immer noch durch das derzeitige Antragsverfahren blockiert wird. Denn insbesondere um die Anforderungen des BGH Urteils richtig umsetzen zu können, spielt die frühzeitige Beauftragung eines Sachverständigen eine zentrale Rolle. Nicht in allen Fällen bestätigt der Sachverständige dabei das Vorliegen eines Insolvenzgrundes. Die positive Fortführungsprognose ist für die Sozialversicherungsträger von zentraler Bedeutung. Denn sie ermöglicht es, die Vollstreckung abzubrechen, auf einen Insolvenzantrag zu verzichten und sogar über Stundungen zu verhandeln. Kommt der Gutachter zu einer positiven Fortführungsprognose, kann diese vom Unternehmen zur Verbesserung eines Liquiditätsengpasses in Verhandlungen mit allen Sozialversicherungsträgern genutzt werden.
Noch besser ist es aber, wenn die Fortführungsprognose nicht erst im Insolvenzantragsverfahren, sondern bereits nach ersten Vollstreckungen vorgelegt wird. Einige Sozialversicherungsträger weisen die Schuldner hierauf verstärkt hin. Für Kassen und Schuldner lassen sich beträchtliche Kosten einsparen, wenn bereits unmittelbar nach erfolglosen Vollstreckungen – und nicht erst im Insolvenzverfahren – eine Sanierung geprüft und umgesetzt wird.
Zum Urteil…
Rückstände von Sozialversicherungsbeiträgen kann jeder Schuldner durch eine Kreditaufnahme tilgen. Gelingt die Kreditaufnahme der Unternehmen nicht innerhalb von drei Wochen, ist nach der Rechtsprechung von einer Zahlungsunfähigkeit auszugehen. Bei schleppenden und somit regelmäßig verspäteten Zahlungseingängen und kommen dann Rückstände in Höhe von einem Beitragsmonat hinzu, kann die Zahlungsunfähigkeit vermutet werden. Soweit Arbeitnehmeranteile vorenthalten werden, kommt sogar ein strafbares Verhalten in Betracht.
Bei der erstmaligen Durchsetzung von Beitragsforderungen im Wege eines Vollstreckungsverfahrens kann somit bereits die Schlussfolgerung einer Zahlungseinstellung nahe liegen.
Sind derartige Indizien vorhanden, bedarf es einer positiven Fortführungsprognose inkl. der Darlegung aller bestehenden Verbindlichkeiten. Die genaue Höhe der gegen den Schuldner bestehenden Verbindlichkeiten oder einer Unterdeckung von mindestens zehn vom Hundert muss festgestellt werden.
Das Urteil in der gelebten Praxis…
Erste Erfahrungen mit dem ESUG konnten ausgewertet werden. Insbesondere die Anfechtung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen werden durch die geänderte Praxis scheinbar nicht minimiert. In der Praxis ist es leider so, dass Unternehmenskrisen oftmals zu spät erkannt werden. Nervosität und Unsicherheit bestimmen den Alltag und Kurzschlussreaktionen sind an der Tagesordnung. Damit können wertvolle Sanierungschancen im Insolvenzverfahren vielfach nicht mehr genutzt werden, weil die Substanz der betroffenen Unternehmen bereits zu stark angegriffen ist.
Die letzten Gesetzesänderungen (insbesondere zum ESUG sowie zum §14 InsO) verfolgten deshalb das Ziel, auf eine frühere Sachstandaufklärung bzw. eine frühere Unterstützung der Unternehmen hinzuwirken. Soweit jedoch keine Eigenanträge gestellt werden, müssen die Gläubiger auf die Möglichkeiten setzen, die ihnen der § 14 InsO eröffnet. Um die BGH Rechtsprechung richtig umsetzen zu können, spielt aber die Beauftragung eines Sachverständigen eine zentrale Rolle.
Das ESUG knüpft an die rechtzeitige Prüfung der Sanierungschancen an. Aber kleine und mittelständische Unternehmen erkennen diese Vorteile oftmals nicht bzw. können die Vorteile gar nicht nutzen. Wenn nun ein Unternehmen in Bedrängnis gerät, suchen Einzugsstellen (Krankenkasse) gemeinsam mit den Unternehmen einen Weg. Dabei geht es nicht nur um Offenlegung der Zahlen, sondern auch um tragfähige Perspektiven und Konzepte. Wenn die Krankenkassen sehen, dass ein Unternehmen eine Aussicht auf Besserung hat, werden sie es nicht im Regen stehen lassen. Im Gegenteil sie begleiten diese Unternehmen, indem sie eine angemessene Risikoeinschätzung und Abwägung vornehmen.
Die jüngste Rechtsprechung des BGH geht davon aus, dass speziell im Wirtschaftsleben die Kontrolle (durch einen externen Sachverständigen) einfach besser ist. Zu wissen, wie es dem Unternehmen geht, macht, laut BGH, Ratenzahlungen und Entscheidungen sicherer und anfechtungsfrei. Folgt man nun diesem Urteil, so sind alle notwendigen Informationen der Krise frühzeitig erkennbar und somit auch vorhanden.
Problematisch ist an dieser Stelle
Nach dem frühzeitigen Erkennen der vom BGH vorgegebenen Hinweise fehlen den Krankenkassen derzeit gesetzliche Handlungsalternativen. Bloße Warnhinweise an die Unternehmen „Insolvenz droht“ sind dabei nicht ausreichend und führen nicht zur Reduktion von Anfechtungsbeträgen (siehe BGH).
Das heißt: Die Rechtsprechung des BGH erhöht bzw. präzisiert die Anforderungen an die Gläubiger bezüglich der Sachaufklärung immer weiter. Die Handlungsalternativen der Gläubiger werden aber immer weiter eingeschränkt und frühe Sachstandaufklärung wird nicht erleichtert sondern erschwert. Den Gläubigern und hier insbesondere den Krankenkassen wird (und dies ist nicht nachvollziehbar) eine frühzeitige Sachaufklärung und somit der gelebte Arbeitsnehmer- und Unternehmenssschutz sogar verwehrt.
Fazit
Der wesentliche Grund für die Erhöhung des Anfechtungsrisikos liegt in der nicht bzw. nicht möglichen (oder auch nicht eingeforderten) frühzeitigen Sachaufklärung. Ist zum Beispiel ein zulässiger Erstantrag gestellt, zwingt das schuldnerische Unternehmen seine Gläubiger durch Vollzahlung des im Insolvenzantrag genannten Betrags in die Anfechtung. Das wird dann zwar später im Insolvenzverfahren durch Anfechtung korrigiert, führt aber regelmäßig dazu, dass weitere Gläubiger geschädigt und Anfechtungszeiträume und Beträge sich erhöhen. Eine wirkliche Handlungsalternative hat der antragsstellende Gläubiger zu diesem Zeitpunkt nicht. Uneinsichtige Schuldner können dadurch noch mögliche Sanierungschancen blockieren, obwohl sie sich selbst und ihren Mitarbeitern mit einer Verzögerung letztlich am meisten schaden.
Arbeitnehmer und Kleinunternehmen sind an einer Fortsetzung der Geschäftsbeziehung sowie an einer kooperativen Zusammenarbeit mit uns interessiert. Sie sind auf unsere Hilfestellung angewiesen! Diese versuchen wir täglich zu geben. Hier hilft uns §76 SGB IV. Es wird allerdings auch in den Diskussion rund um das Anfechtungsrecht deutlich, dass die Formulierung des §76 SGB IV, des § 324 SGB III noch besser mit dem des ESUG bzw. der Insolvenzordnung verzahnt werden müssen. Dies würde die tägliche Arbeit erleichtern und vor allem den Arbeitnehmerschutz verbessern.
Setzt das Unternehmen trotz wiederholter Ansprache durch verschiedene Gläubiger keine erkennbaren Maßnahmen zur (flächendeckenden) Schuldenregulierung um, zahlt dieses Unternehmen dauerhaft verspätetet oder zahlt seine Außenstände nicht, dann muss der Gläubiger eine Reaktionsmöglichkeit (bzw. Möglichkeit der Sachaufklärung) haben. Wird dem Gläubiger die sinnvolle und insolvenzfeste Reaktionsmöglichkeit bzw. die frühe Sachstandsaufklärung verwehrt, kommt es zu dem bekannten Effekt der Erhöhung der Insolvenzanfechtung.
Nach meinem Eindruck sollte daher der Referentenentwurf das Konzept des § 14 InsO zur Reduzierung der Verluste durch Amtsermittlung zum Vorliegen von Insolvenzgründen stärker nutzen, um Steuer- und Sozialversicherungsausfälle konsequent zu vermeiden, frühzeitige Sanierung zu fördern sowie frühere Sachstandaufklärung zu ermöglichen und damit weitere Diskussionen über Privilegierungen unnötig zu machen.
Der BGH hat die geplante Reform durch zwei jüngere Urteile (BGH, Urt. v. 25.02.2016 – IX ZR 109/15 und BGH, Urt. v. 24.03.2016 – IX ZR 242/13) bereits ausgehebelt. Die geplante gesetzliche Vermutung ist widerleglich und wird durch entsprechende Beweisanzeichen widerlegt werden können. Mehr Infos unter http://www.insolvenzanfechtung-buchalik.de (dort unter Rechtsprechung und Aktuelles)
Freundliche Grüße
RA Dr. Olaf Hiebert
forensische Sonderuntersuchungen in der Insolvenz / Professionelle Aufklärung von Insolvenzanfechtungstatbeständen nutzen immer mehr Verwalter
BGH IX ZR 149/ 14 Stockende Ratenzahlung begründet (grundsätzlich) keine Anfechtung! Zumindest nicht gleich !
ZInsO 2015, 1422 – 1429 Anfechtungserpressung – Halbierung der Anfechtungsbeträge durch Ursachenbeseitigung im Antragsverfahren – von Rechtsanwalt Klaus Kollbach, Köln
Ich habe noch einen interessanten Beitrag in ZInsO Heft 29 gelesen. Der ergänzend zu diesem Text gelesen werden sollte. Es wäre laut dem Autor sinnvoll, sich für eine Änderung des Antragsverfahrens statt einer Forderung nach Vorrechten einsetzen. Nach der jüngsten BGH- Entscheidung zur Anfechtung nach Zahlungsverzögerungen gibt es so der Autor keine Ausweichen mehr. Ich hoffe, alle die diesen Beitrag lesen finden interessante Ansätze, auch wenn sie sich täglich mit solchen Fragen beschäftigen.
Siehe hierzu auch die Stellungnahmen zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz
vom BDI
https://www.bdi.eu/download_content/RechtUndOeffentlichesAuftragswesen/BDI-Stn_RefE_Insolvenzanfechtung.pdf
und vom BAKinso
https://www.bak-inso.de/index.php?option=com_phocadownload&view=category&download=330:bakinso-stellungnahme-refe-anfechtungsrecht&id=33:referentenentwurf-eines-gesetzes-zur-verbesserung-der-rechtssicherheit-bei-anfechtungen-nach-der-insolvenzordnung-und-nach-dem-anfechtungsgesetz&Itemid=115
Hinweise zum Thema Sachaufklärung und zum §14 InsO auch hier enthalten
https://www.juris.de/jportal/portal/t/t8r/page/homerl.psml?nid=jpr-NLIR000006015&cmsuri=/juris/de/nachrichten/zeigenachricht.jsp